Die Unsichtbarkeit der Jenischen

Ich habe kürzlich zufällig auf dem Marienplatz in Schwerin einen älteren Mann an der Seite sitzen sehen, der neben sich einen Rucksack und einen Schlafsack getürmt hatte. Die meisten Menschen eilten an ihm vorbei, sahen ihn nicht. Oben auf dem Turm seiner Habseligkeiten ein Schild: Er sei ein (obdachloser) Reisender und würde sich herzlich für eine Spende für seine Reisen bedanken. Und dann war da ein Aufkleber über eine Vereinigung der Jenischen.

Jenische – Menschen, die aus Jena und dem Jenaer Umland stammen? Er lachte über meine Vermutung und meinte, ich solle den Begriff „Jenische“ mal recherchieren. Ich würde mich wundern…

Er wäre vor 14 Tagen gerade vom Bodensee nach Norddeutschland gekommen, sei für 2-3 Tage in Schwerin und dann würde er weiterfahren, meist mit dem Zug. Er sei seit 12 Jahren mehrfach durch die ganze Bundesrepublik kreuz und quer gezogen. Auf Rügen wäre er schon oft gewesen und man würde ihn dort gut kennen.
Als Jenischer sei es ganz wichtig, nicht an einem Ort kleben zu bleiben. Ihn selbst habe vor zwölf Jahren eine Scheidung aus der Sesshaftigkeit geworfen. Er hätte alles verloren und lebe seitdem auf der Straße. In den zwölf Jahren sei er glücklicherweise nicht einmal krank gewesen. Sein Vorteil sei, dass er keinen Alkohol trinke.

Angezogen war er gut, sah sauber und ordentlich aus – wie man so sagt. Ich wünschte ihm, nachdem ich seinen Sammelbecher um ein paar Euro bereichert hatte, gesund zu bleiben und gute Reise. Ich hätte mich mit ihm noch länger unterhalten sollen. Ein Reisender mit Philosophie…

Das Wort „Jenische“ ließ mich nicht mehr los. Als ich den Umfang des dazu passenden Wikipedia-Artikels erfassen wollte, kam ich mit der unwahrscheinlich großen Anzahl von Einzelnachweisen auf über 118.000 Zeichen mit Leerzeichen. Umgerechnet auf Übersetzernormseiten sind das ca. 72 Seiten!

Was sind denn nun laut Wikipedia die Jenischen?

„Jenische ist sowohl eine Eigen- als auch eine Fremdbezeichnung für Angehörige eines nach landschaftlicher und sozialer Abkunft in sich heterogenen Teils der Bevölkerung in Mittel- und Westeuropa. Historisch lassen sich Jenische auf Angehörige der marginalisierten Schichten der Armutsgesellschaften der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts zurückführen. Merkmale dieser historischen Jenischen waren ihr ökonomischer, rechtlicher und sozialer Ausschluss aus der Mehrheitsbevölkerung und eine dadurch bedingte Binnenmigration, meist innerhalb Europas. Jenischen zugeordnet wird eine eigentümliche Sprachvarietät, die aus dem Rotwelsch hervorgegangene jenische Sprache.“

Die Geschichte der Jenischen ist eine jahrhundertelange Geschichte von Armut, Ausgrenzung, Verfolgung und Kränkung. Erst langsam ändert sich etwas.

Nur in der Schweiz sind seit 1998 die Jenischen als nationale Minderheit anerkannt. Diese Anerkennung geht auf das Rahmenübereinkommens des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten zurück.

Sogar einen „Europäischen Jenischen Rat“ (Conseil Européen Yéniche) gibt es seit 2019. Sein Sitz ist – wie kann es anders sein – in der Schweiz. 2019 wurde auch der „Zentralrat der Jenischen in Deutschland“ gegründet – daher der Aufkleber auf dem Schild meiner Zufallsbekanntschaft.

Ich hatte anhand des Wikipedia-Artikels eine Art von familiärem Aha-Effekt: Meine eigene Familie väterlicherseits bestand im 19. Jahrhundert/Anfang des 20. Jahrhunderts zum Teil aus Schauspielern und Gauklern; sie war also dem „fahrenden Volk“ zuzuordnen. Diese Vorfahren waren schon seit Generationen Atheisten. Leider haben sich nur wenige Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten. Gewiss ist, dass die Pfade meiner Vorfahren bis nach Japan führten. Stamme ich also ursprünglich von Jenischen ab? Ein interessanter Gedanke… Von Romantik war aber sicherlich beim beschwerlichen Alltag dieser Menschen kaum etwas zu spüren. Abenteuerlust musste ihnen wohl dennoch im Blut gelegen haben.

Das Thema Sprachen wird immer facettenreicher, je mehr man sich damit beschäftigt. Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen Sprechen und Leben.

Und immer wieder stelle ich fest: Es ist noch viel zu lernen, es ist noch viel zu tun!

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